Die Atman-Brahman - Lehre

zusammengefasst nach A. Alston: A Shankara Sourcebook in 6 Volumes, London, Shanti Sadan, 2004 

Shankaras Lehre von Atman und Brahman

Die TM wurzelt in der Brahman-Atman-Lehre der Shankara-Tradition. Zu deren Darstellung in einem kurzen Abriss greifen wir auf die Ausführungen von Wilke (1986 und 1995) zurück.

Brahman

„Jenes Licht, durch das die Lichtkörper Sonne und Mond beleuchtet werden, das aber selbst nicht durch das Licht jener beleuchtet wird, erkenne jenes als Brahman.“ Shankara in Atmabodha, Vers 61

Dabei wird negiert, dass Brahman Ursache von allem Geschaffenen sei. Brahman lässt sich nicht ableiten aus den Wirkungen als letzte Ursache, sondern steht über der Ursache, Brahman ist frei von jeglicher kausaler Beziehung, ist beziehungslos. Und doch ist gleichzeitig nichts ohne Brahman, Brahman ist in allem, und alles ist in ihm. Brahman ist nicht nur fern, ferner als das Fernste, sondern auch nah, das Allernächste schlechthin, nicht nur das ganz Andere, sondern auch das Nichtandere:

Svetaswara Upanishad:

„Dieser Leuchtende durchdringt alle Himmelsrichtungen“

„Er ist in allen Menschen“

„Nichts ist von ihm verschieden. Durch ihn ist das ganze Universum erfüllt.“

„Er ist Einer ohne ein Zweites“

„Er ist das, was ist, was war, und was sein wird“

Mundaka Upanishad:

„Es (Brahman) ist überall; oben, unten, vorne, hinten, rechts, links. All diese Welt ist wahrlich dieses Höchste Brahman“

Brahman ist nach Wilke immanent und transzendent zugleich, ist die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen, und doch immer nur das „Eine ohne ein Zweites“ („A-dvaita“), frei von aller Teilung und Unterschiedenheit.

Diese Aussagen als Ganzes zu hören, sie zu verinnerlichen und in eigener Anschauung zu begreifen, ergibt nach Wilke einen ganz anderen Gottesbegriff und ein ganz anderes In-der-Welt-sein; Gott bleibt nicht mehr nur der Ferne, Anbetungswürdige, sondern wird zum Allernächsten, Allerintimsten durch die Anerkennung seiner Immanenz, da er in seinem Anwesen in allem Seienden nicht verschieden ist vom eigenen Selbst.

Mit den Worten: „Dort in jenem eigenen Selbst, im Atman, das Brahman ist“ weise Shankara im Sinne der Schriften nicht nur auf die Transzendenz Gottes, sondern auch auf die Transzendenz des Menschen hin, und auf die absolute Identität Brahmans und Atmans (tat tvam asi - DAS bist du).

Nach Shankara sei die Grundintention aller vedischen Aussagen die Lehre vom Atman: „Der ganze Veda bezieht sich auf den Gegenstand des Selbst“. Atman sei Ursprung und Ziel des Universums und als Erkenntnisprinzip zugleich der innerste Wesenskern des Menschen:

Shankara kommentiert in den Brahma-Sutras: „Dies alles (das ganze Universum) ist das Selbst“. Damit wird offenbar gemacht, dass die gesamte objektive Welt nichtverschieden ist vom Selbst. „Wenn das Selbst erkannt wird, wird dies alles erkannt“; „Dies alles ist das Selbst“. Wäre das erkennende Selbst [das Individuum] verschieden vom höchsten Selbst, dann bliebe sogar das erkennende Selbst unbekannt, auch wenn das höchste Selbst erkannt würde.“

Jedem gedanklichen Erfassen muss ein nicht gedankliches Bewusstsein zugrunde liegen. Damit ich mir einer Sache bewusst bin, muss ich mit Bewusstsein begabt sein. Es ist weder eine reine Abstraktion, noch eine Behauptung, solcherart von Bewusstsein zu sprechen, noch bleibt es ohne Wirkung auf das praktische Leben. Die Schriften stellen diesen Sachverhalt als klare Tatsache dar. Nur die eigene Verifikation kann der letzte und eigentliche Maßstab sein, die wirkliche Autorität, das eigentliche Erkenntnismittel, denn hier muss sich dieses Wissen, „jenes, das erkannt habend man alles kennt“ (Mundaka Upanishad), ereignen. Es ist wichtig, sich eingedenk zu sein, dass von den Schriften gesagt wird, sie seien ganz direktes Erkenntnismittel. Darum ist Vedanta nach Wilke in seinem Selbstverständnis vor allem eine Lehrtradition, eine Weisheitslehre.

In Bezug auf seine Funktionen wird das Gemüt viergliedrig genannt (manas, buddhi, citta, ahankara) und in bezug auf seine Natur ein Gedankenfluss. Dieses Gemüt (antahkarana oder innere Instrument) sei somit keine einheitliche, wirkliche Größe oder Substanz, sondern eine Aneinanderreihung von sich ständig verändernden und abwechselnden Gedanken, die in ihrer Dichte und Geschwindigkeit die Illusion einer einheitlichen Größe vermitteln, wie etwa die einzelnen Bilder eines ablaufenden Films. Geben wir nun zu, dass das Gemüt eine Vielfalt von Gefühlen, Erinnerungen und Gedanken ist, eine Zusammensetzung also, oder besser ein Gedankenfluss, so werden wir in beachtliche Schwierigkeiten kommen, wenn wir dieses antahkarana (Gemüt oder Geist) mit Bewusstsein gleichsetzen.

Weder der einzelne Gedanke noch der Gedankenfluss als Ganzes kann selbstscheinend, d.h. unabhängig sein. Auch sie scheinen wider. Wir erfahren den Wandel der Dinge, z.B. die veränderlichen Jahreszeiten, wie den Wandel an uns selbst; wir wachsen und altern, unsere Gefühle ändern sich. Dass all dies stattfindet, dass ich Freude und Schmerz, Scheu, Wut, Mitleid, Ekel usw. erleben kann, dass ich mich ihrer erinnern kann, dass ich sie in die Zukunft projiziere, dass ich sie in diesem Moment erlebe, setzt etwas voraus, das all diesen Erlebnispartikeln zugrunde liegt und selbst unwandelbar ist. Ich bin mir all dieser Wahrnehmungen, Gedanken und Gefühle bewusst. Dieses Bewusstsein selbst, das in bezug auf das Wahrgenommene „Betrachter“ genannt wird, sollte selbst frei vom Betrachteten sein, ohne Form, ohne Eigenschaft. Obwohl es Ursache und Grundlage der Wahrnehmung ist (Katha Upanishad), obwohl ein Gedanke aus ihm aufsteigt, durch dieses genährt wird, d.h. durch dieses seine Leuchtkraft, sein Bewusstsein erhält, in ihm untergeht, sollte es ohne Wechsel und ohne Färbung bleiben. Nur das Erlebnispartikel, das Gedankenbild selber wird gefärbt vom Inhalt der Wahrnehmung, nicht aber das Bewusstsein selbst. Dieses ist der einzige gleichbleibende Faktor in jeder Wahrnehmung, im Zorn und im Mitleid, im Hören und im Sehen, im Hungern und in der Zufriedenheit (Kaivalya Upanishad). Es ist zeitlich, örtlich und in bezug auf den Gegenstand unbegrenzt. Wilke nennt es nicht-intentionales Bewusstsein.

Die Methode, das Durchgehende in der Veränderung festzustellen, wird im Sanskrit „anvaya vyatireka“ genannt:

Die vrtti ist, Bewusstsein ist.

Die vrtti geht, Bewusstsein ist.

Bewusstsein ist anvaya – durchgängig, die vrtti vyatireka – veränderlich. Dieses Bewusstsein besteht, nicht nur wenn eine vrtti die andere ablöst, sondern auch wenn Gedankenstille eintritt (prasantatman). Darum wird es das Alleinscheinende genannt. Es ist in den Gedanken, zwischen den Gedanken und ohne Gedanken, d.h. es ist mit Welt und ohne Welt (da alles Sichtbare und Unsichtbare gedanklich, oder besser, durch eine vrtti erfasst werden kann). Darum ist cit – Bewusstsein auch sat – Sein und ananda – Fülle, Unbegrenztheit.

An anderer Stelle weist Wilke darauf hin, dass bei Shankara Brahman und Atman – Seele oder inneres Selbst – in ihrer Nicht-Objektivierbarkeit noch unmittelbarer gleichgesetzt werden: ,,[Die Aussage,] dass Brahman jenseits der Sprache und des Denkens ist, bezweckt nicht, das Nichtsein Brahmans festzustellen. (...) Wenn gesagt wird, Brahman sei jenseits der Sprache und des Denkens, soll gesagt werden, dass es nicht in den Bereich der Objekthaftigkeit fällt, dass es das innere Selbst ist, und dass es seiner Natur nach ewig, rein, Intellekt und frei ist. Deshalb ist zu verstehen, dass die Formenvielfalt bezüglich des Brahman verneint wird, und [dass nach der Verneinung] Brahman selbst unverändert übrig bleibt.

Wenn die Wiederholung [nicht so, nicht so] verwendet wird, wird das Gesamt des durch Objekte Bewirkten [alle Objektbezüge und Gegenstände des Wissens] negiert. Daraus folgt, dass das innere Selbst, welches kein Objekt ist, Brahman ist“.

Nicht nur Brahman ist namen- und formlos und deshalb der Sprache und dem Denken unerreichbar, sondern auch der Atman, die ,,oberste“ Vernunft des Menschen (= das objektlose Erkennen), und zwar, weil der Atman selbstleuchtendes Licht und Grundlage, Ursache und ,,Leuchte“ der die Gegenstände beleuchtenden ,,niederen“ Vernunft (= die objektbezogenen Erkenntnisakte) ist. Als Grundlage der Erkenntnisakte ist er diesen unerreichbar und zugleich immer schon erreicht.

Das Absolute als Seligkeit

Shankara war eine gute Portion weniger überschwänglich als seine späteren Nachfolger hinsichtlich des Bezuges auf das Absolute oder das Selbst als Seligkeit. Dies mag an seiner berühmten Arbeit „Das Kleinod der Unterscheidung“ (Vivekachudamani) veranschaulicht werden, die ihm zugeschrieben wurde, von man aber heute weiß, dass sie Jahrhunderte nach seinem Tod von Mitgliedern seiner Schule verfasst wurde. Von den 580 Versen des „Kleinods“ bezieht sich fast ein Zehntel in der ein oder anderen Weise auf das Thema Seligkeit, wohingegen in Shankaras einziger selbständiger und gesicherter authentischer Arbeit, Upadesha Sahasri, der Begriff Seligkeit (ananda) lediglich einmal auftaucht und das Absolute regelmäßig als „ausschließlich Sein und Bewusstsein“ (sac-cin-matra) beschrieben wird und nicht als „Sein-Bewusstsein-Seligkeit“ (sac-cit-ananda). Gleichwohl sprechen die Upanishaden durchaus vom Absoluten als Seligkeit und dieser Hinweis fehlt – wie bereits ausgeführt wurde – nicht in den ursprünglichen Schriften Shankaras.

„Aber wenn im traumlosen Schlaf das Nichtwissen, welches die Erscheinung der vom Selbst verschiedenen Wesen ins Leben ruft, aufhört, dann gibt es kein manifestes Ding, das von einem getrennt getrennt wäre, als sei es ‚etwas anderes’. Womit könnte man in dem Moment sehen, riechen oder verstehen ? Man ist dann völlig umfangen vom eigenen Selbst als von Bewusstsein, das seinem Wesen nach selbst-leuchtendes Licht ist. Man ist dann völlig heiter, mit allen Wünschen erfüllt, transparent wie Wasser, und all dies beruht an der Abwesenheit eines Zweiten. Wenn nämlich ein Zweites unterschieden wird, muss dies durch Nichtwissen sein, und da dies nun aufhörte, ist das Zurückbleibende eines und homogen. Es ist der Seher, denn sein Sehen, dem Wesen nach selbst-leuchtendes Licht, ist ohne Unterbrechung. Es ist ohne ein Zweites, denn da gibt es kein zweites Ding, was als gegen-über-Stehendes zu sehen wäre. Dies ist der unsterbliche, der furchtlose Zustand. Das ist die Welt von brahman, das heißt, die Welt, die Brahman (das Absolute) ist. Zu dieser Zeit, wenn die Seele in den Zustand des traumlosen Schlafes hinübergeht, ruht die erhabene Wirklichkeit, nachdem sie alle äußeren Attribute wie den Körper und die Sinne abgeworfen hat, bar aller Bezüge in ihrem eigenen Licht.

Dies ist der höchste Zustand des Prinzips des Lichtes, das anscheinende Verkörperung annimmt. Alle anderen Zustände von der die Schöpfung regierenden Gottheit bis zum Grasbüschel beinhalten Verkörperung und werden durch Nichtwissen vorgestellt und sind sekundär, weil sie zum Reich des Nichtwissens gehören (dagegen gelangt die Seele im traumlosen Schlaf jenseits des Zustandes des Nichtwissens). Aber dieser Zustand (des traumlosen Schlafes) ist weitaus höher als die Stellung der Götter und anderer exaltierter Wesen, die durch eifrige Übungen (Rituale und Meditationen über ihre symbolische Bedeutung) erreicht werden können. Es ist ein Zustand der Identität mit dem Selbst von allem, wo man nichts anderes sieht, nichts anderes hört, nichts anderes weiß. Dies ist die höchste Herrlichkeit (glory). Es ist die höchste der Herrlichkeiten, weil es der eigene natürliche Zustand ist, und alle anderen Zustände der Herrlichkeit sind hergestellt (und deshalb vergänglich). Dies ist die höchste Welt und alle anderen Welten, die Frucht der Rituale, sind untergeordnet. Aber dieser Zustand ist nicht innerhalb der Reichweite von Handlung, da es der eigene natürliche Zustand ist (und daher ewig realisiert, selbst wenn man als nichtwissend sich dessen nicht bewusst sein mag). Dies ist die eigene höchste Welt und ebenso die eigene höchste Seligkeit. Es ist die eigene erhabene Seligkeit verglichen mit sämtlichen anderen Freuden, die durch durch den Kontakt der Sinne mit ihren Objekten hervorgerufen werden, denn sie ist ewig. ‚Das was unendlich ist, das ist Freude,’ sagt ein anderer Text….

Auf einem Bruchteil dieser Seligkeit, einem Bruchteil, der durch Nichtwissen entsteht und so lange wie der Kontakt der Sinne mit speziellen (erfreulichen) Objekten dauert, existieren alle anderen Wesen.“ (Chandogya Upanishad VII. viii. 1)

„Selbst weltliche Seligkeit ist ein Fragment der Seligkeit des Absoluten…. Aber wenn der durch Nichtwissen hergestellte Unterschied zwischen Subjekt und Objekt durch Wissen beseitigt wurde, dann ist das, was übrigbleibt, die natürliche unendliche Seligkeit allein, eines ohne ein zweites.“ (Taittiriya Upanishad bhasya II. 8)

© 2022 Anke Beumann